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STORY in einer atemberaubenden Kombination aus Kontorsion und Hand-auf-Hand-Artistik erleben. »Ich liebe das Artistenleben und das Reisen«, sagt sie – auch wenn das ein Leben aus dem Koffer bedeutet. Jeweils eine Woche lang bleibt die Show in einer Stadt. Gespielt wird von Mittwoch bis Sonntag mit jeweils zwei Vorstellungen an den Wochenenden. Spätestens um 12 Uhr ist sie an jedem Vorstellungstag in der Halle, um sich zu dehnen, zu trainieren und neue Elemente einzustudieren – und an den »freien « Tagen, den Montagen und Dienstagen, fi ndet man sie in den Fitnessräumen der Hotels, in denen die Artisten untergebracht sind. Trotzdem sagt sie: »Das fühlt sich für mich nicht nach Arbeit an, denn ich werde für das bezahlt, was ich liebe.« MIT BEGEISTERUNG BEI DER SACHE Überhaupt trifft man an diesem Tag ausschließlich Menschen, die mit voller Begeisterung bei der Sache sind – und das sind beileibe nicht nur die Artisten. Mehr als 100 Personen umfasst der Tross mit dem die Cirque du Soleil-Show »Ovo« um die Welt reist – mehr als die Hälfte davon arbeitet hinter den Kulissen, wie auch Michael Davis. Während er am Bühnenrand die Proben der Luftakrobaten beobachtet, beginnt er zu erzählen: »Die Show ist purer Rock’n’Roll«, so Davies, der früher als Roadie mit Nine Inch Nails um die Welt getourt ist, und jetzt beim Cirque du Soleil für den Auf- und Abbau verantwortlich ist. 23 LKW werden benötigt um das gesamte Equipment, das aus mehr als 60.000 Einzelteilen besteht, die in 600 Kisten verpackt sind, von Stadt zu Stadt zu transportieren. 30 Stunden dauert der Aufbau, abgebaut ist alles in lediglich drei Stunden. Zum Tour-Tross gehört unter anderem auch ein Küchenteam, das mit einem eigenen Catering Truck unterwegs ist und in jeder Halle eine eigene Kantine für die gesamte Crew aufbaut. Bereits lange bevor die ersten in der Halle eintreffen, herrscht in der Küche rege Betriebsamkeit, denn über den gesamten Tag müssen ständig diverse warme und kalte Mahlzeiten für alle Mitarbeiter bereit stehen – mit und ohne Fleisch – dazu Salate in allen Variationen, Suppen, Müsli, frisches Obst und vieles mehr. Auch eine Wäscherei reist mit »Ovo« um die Welt. So bald die Künstler von der Bühne kommen, beginnt für das Team die Arbeit. Die sechs Waschmaschinen und die beiden Trockner laufen nahezu die ganze Nacht über, damit die von den anstrengenden Darbietungen durchgeschwitzten Kostüme am kommenden Tag wieder frisch sind. Und falls während der Show einmal etwas kaputt geht, sind vier Mitarbeiterinnen in der Näherei permanent damit beschäftigt, kleine Löcher zu stopfen, abgefallene Accessoires wieder an die richtigen Stellen zu nähen und individuelle Änderungen an den hauchdünnen Stoffen der liebevoll gestalteten Insektenkostümen der Artisten vorzunehmen. Die Brasilianerin Luana Ouverney, die seit 2013 mit »Ovo« tourt, ist die Herrin über die insgesamt rund 11.000 Kostüme der Show. Jeder Artist hat mehrere davon und die Näherei überprüft jedes einzelne Teil nach jeder einzelnen Show. Wenn ein Kostüm so beschädigt ist, dass es nicht mehr repariert werden kann, wird während der Tournee ein neues angefertigt. »Es dauert zum Beispiel 75 Stunden ein neues Grillen-Kostüm zu nähen«, sagt Luana Ouverney. Während Luana Ouverney quasi sprichwörtlich aus dem Nähkästchen plaudert, kommt Kyle Cargle in die Garderobe. Cargle ist einer der Solo- Artisten und zeigt in der Show als Libelle eine spektakuläre Handstadt-Kontorsionsnummer. Gerade möchte er allerdings die Schuhe von Jan Dutler, dem Darsteller des tollpatschigen Fliegenmannes aus dem Clown-Trio, anprobieren. »Ich bin dabei die Rolle von Jan zu lernen, damit wir ein Backup haben, wenn er einmal ausfallen sollte«, sagt der zierliche Artist, dem die Schuhe des großgewachsenen Schweizers Dutler allerdings einige Nummern zu groß sind – Luana Ouverney nimmt Maß und verspricht ihm, dass er in ein paar Tagen seine eigenen Fliegenmann-Schuhe haben wird. Ein Backup für seine eigene Nummer gibt es allerdings nicht. Sollte er einmal ausfallen, würde eine der Kontorsionistinnen eine alternative Darbietung präsentieren. Jan Dutler selbst ist kein Artist, darum muss er sich auch nicht aufwärmen oder permanent trainieren – dafür schminkt er sich aber selbst, während er erzählt, dass er in Montreal, wo der Zirkus seine Zentrale hat, zur Clown-Schule gegangen ist und so zum Cirque du Soleil gekommen ist. Aufgewachsen ist der 31-Jährige in einem kleinen Ort in der Schweiz, wo er nach der Schule eine Lehre als Zimmermann absolviert hat. Auf der Walz hat er seine Liebe zu einem Leben auf Wanderschaft entdeckt und davon geträumt als Straßenmusiker durch die Welt zu reisen, was er nach dem Abschluss der Lehre auch einige Jahre lang gemacht hat. JAN DUTLER IST »DER FREMDE« »Das war eine gute Schule für mich. Ich habe gelernt, mich zu öffnen und auf Menschen zuzugehen«, sagt Dutler, der sein Publikum in den Fußgängerzonen der Welt mit Mundharmonika, Ukulele, Loop-Maschine und Beatboxing unterhielt und so nach und nach eine eigene Show entwickelte. »In Montreal bin ich ohne feste Absichten gestrandet. Ich hatte nur gelesen, dass es dort Straßenmusikfestivals gibt«, sagt Dutler. »Dann habe ich online die Clownschule in der Stadt gefunden, dort eine One-Man- Show entwickelt und bin schließlich beim Cirque du Soleil gelandet«. Während des Gesprächs hat sich Jan Dutler in den Charakter der Schmeißfl iege verwandelt, die auf der Bühne das geordnete Leben in der Insektenkolonie gehörig durcheinanderbringen und das Herz der vorwitzigen Marienkäferdame erobern wird – an diesem Abend in Pittsburgh, ansonsten immer mittwochs bis sonntags irgendwo auf der Welt und vom 29. November bis 3. Dezember in der Stuttgarter Porsche-Arena. hab MORITZ 2017-10 9


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